Der sechste Tag oder: Eine deutsche Truppe

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Erstmals beginnt der Tag für mich an den frühsten aller möglichen Stunden. Es ist kurz nach Mitternacht, als sich Muriel und Nikolaus im Beisein ihrer Produzentin in einem kleinen Raum schräg gegenüber des kleinen Theaters Le Vieux Balancier mit mir zusammensetzen, um über ihre Anwesenheit in Avignon zu erzählen. Die Französin und der Deutsche bilden zusammen das Macadam Théâtre, eine der beiden einzigen deutschen Gruppen, die am diesjährigen Off teilnehmen.

 

Obwohl deutsch… Deutsch-französisch müsste man sagen. Dass die beiden ihren Hauptsitz im Rheinland-Pfälzischen Offenbach-Hundheim haben, wird dem Festival-Besucher nicht auffallen. Die in Bordeaux geborene Muriel spricht Französisch wie jeder andere Franzose. Und Nikolaus steigt unter anderem deshalb nicht auf die Bühne, weil sein Französisch zu schlecht sei. So sagt er es zumindest. Aber das ist auch nur der Grund „unter anderem“. Denn die beiden sind mit einem Monolog nach Avignon gekommen. Ein Monolog des Italieners Dario Fo, bei dem die 54-jährige Muriel selbst einen Teil ihrer Ausbildung genossen hat.

 

„Une femme seule“ von Dario Fo und Franca Rame, Macadam Théâtre, Offenbach-Hundheim.

 

Wieder ein Minitheater, das ein ausgefeiltes Bühnenbild nicht zulässt. Dies braucht es auch nicht. Ein Tisch, der als Bügelbrett, Ablage und Telefonunterlage gleichzeitig dient, reicht aus, um das Dekor für den Monolog einer Frau mittleren Alters zu erzeugen, die mit ihrer neuen Nachbarin im Haus gegenüber über ihr Leben spricht. Zufrieden sei sie mit diesem, so gibt sie zu Beginn vor. Doch dann, beim Erzählen, geht ihr auf, dass alles eigentlich doch ganz schlimm, unerträglich, nicht akzeptabel ist. Von ihrem Mann wird sie im Haus eingeschlossen, ist ihm mehr Objekt als Mensch, der im Rollstuhl sitzende Schwager lässt sie nach seiner Trompete tanzen. Und, und, und. Je mehr sich die Frau ihrer Lage bewusst wird, je mehr fängt sie an, sich dagegen aufzulehnen…

 

„Der Text ist heute noch so aktuell wie vor ein paar Jahrzehnten, als er geschrieben wurde“, erzählt Darstellerin Muriel Anastanze-Ruf über das Stück. Auch heute seien Frauen oft eingeschlossen – wenn nicht mit Schlüsseln in ihren Häusern, so auf andere Art. Mental, durch gesellschaftliche Vorstellungen, männliche Dominanz in vielen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens.

 

Ja, will man da sagen, und den Transfer schafft der mitdenkende Zuschauer beim Betrachten des Stückes durchaus mit ein bisschen guten Willen. Aber wäre es nicht angebracht gewesen, auch auf der Bühne etwas von dem Aktualitätsbezug anzudeuten? Die namenlose Frau nicht nur in ein Bild zu setzen – bügelnd, altmodisches Telefon, keine unbedingt zeitgenössische Kleidung – das auf die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verweist? Die letztlich doch sehr klassische, solide Aufführung hätte dadurch sicher etwas an erfrischender Brisanz gewonnen.

 

„Aber wir sind nur gekommen, weil uns ein Produzent hierhin geschickt hat“, begründet Muriel die Anwesenheit der „Deutschen“. Die lothringische Le Singe Blanc et Cies, bei der das Macadam Théâtre schon ein Jahr in Residenz ist, übernimmt in diesem Fall alle Kosten und finanziellen Risiken. Sogar ein kleines Gehalt springt für Muriel und Nikolaus heraus. Zwar nur ein paar Euro, aber im Vergleich mit dem Mimentheater aus Gent, das alles, wirklich alles aus der eigenen Theaterkasse zahlen muss, schon eine angenehme Situation.

 

Als ganz tolle Erfahrung empfinden es beide, hier zu sein. Für sie ist Avignon ein großartiges Erlebnis, welches sie von sich aus aber nicht gesucht hätten. „Für uns geht es nicht um das große Entdeckt-Werden“, erzählt Nikolaus. Wäre ihnen Ruhm in ihrem Berufsleben wichtig gewesen, hätten sie nicht das Macadam Théâtre gegründet. „Ich habe Maschinenbauingenieur studiert, Muriel war Uni-Prof und Theaterleiterin in Portugal, Karriere hätten wir also auf diese Weise machen können“, erzählt der 46-Jährige. Die Liebe zu ihrer Kunst treibe sie an. Texte teilen mit dem Publikum – das sei ihre Motivation.

 

Natürlich müsse man genug Gelegenheit erhalten, von seiner Kunst leben zu können. Aus dieser Perspektive sehen die beiden Avignon als Bereicherung. Eine Einladung zu einem Dario Fo-Festival in Paris, Auftragsperspektiven in Bukarest – das sind die Ergebnisse der ersten Tage. Diese Kontakte auf professioneller Ebene trösten über den schleppenden Beginn beim Publikuminteresse hinweg. „Am ersten und dritten Abend hatten wir keinen einzigen zahlenden Zuschauer“, berichtet Nikolaus.

 

Eine gute Stunde plaudere ich mit den beiden, dann streiche ich die Segel und begebe mich zum Schlafen in die Gerberstraße.

 

Am nächsten Vormittag hält die Festival-Leitung eine unwillkommene Überraschung bereit. „Wir haben die Internet-Verbindung extra nicht mehr installiert, weil wir durch die Überbelastung selbst nicht mehr arbeiten konnten“, erklärt mir lächelnd die Presse-Beauftragte im Organisationsbüro an der Place de l’Horloge. Kein Internet, keine Möglichkeit, meine Texte – kostenlos – zu verschicken. „Wifi gibt es noch in der Bar du Festival im Festival-Dorf.“ Ja, schön, stapfe ich also dorthin.

 

Um halb zwölf Uhr – ich habe diese Erfahrung ja schon mal gemacht – wacht dieses Dorf gerade erst auf. Am Tresen der Festivalbar sitzen zwei Menschen, der Bar-Betreiber bringt seine Terrasse in Ordnung, ich nehme mir einen Stuhl, ziehe ihn in den Schatten, schalte den Laptop ein. Wifi? „Da müssen Sie zu den Organisatoren unter dem Riesenrad gehen“, erhalte ich als Antwort vom aufräumenden Barkeeper. Also zurück durchs Dorf. „Nein, frei empfangen können Sie das nicht, dafür müssen Sie sich das Programm mit CD aufspielen. Die haben wir aber nicht hier.“ Na prima! Fluchend über so viel südfranzösische Nonchalance setze ich meinen unfreiwilligen Fußmarsch durch Avignon fort, dem Platz entgegen, wo ich auf jeden Fall Internet bekommen kann: Im Café Ginette & Marcel auf der Place des Corps Saints.

 

Da ich aber keine Lust habe, ein Getränk zu bezahlen, setze ich mich auf den Rand des zum Glück kein Wasser führenden Brunnens in der Mitte des kleinen Platzes, hoffe, dass die Wifi-Wellen auch noch diese Randlage abdecken… Und habe Glück. Die Arbeitsbedingungen für einen Journalisten zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wieder hergestellt.

 

Nachmittags treffe ich beim Schlendern durch die Straßen einen der fünf Musiker, die zwei Abende zuvor das spontane Straßenkonzert gegeben und mit bei Océane übernachtet hatten. Sie haben an dem Abend noch ein zweites Mal gespielt – und dabei einen Volltreffer gelandet. Eine Frau sei auf sie zugekommen und habe ihnen Auftrittsmöglichkeiten in Avignon in Aussicht gestellt. Im September, und eventuell für das nächste Festival.

 

Während wir uns unterhalten, kommt ein junger Mann auf uns zu, reicht uns wie so viele andere über den Tag verteilt einen Flyer hin. „Bonjour, wir machen nichts“, sagt er mit ernster Mine und drückt uns ein Stück Papier in wohlbekanntem Format in die Hand. Auf Vorder- und Rückseite ist es leer, unbedruckt. Ein einfaches Stück weißes Papier. Eine Art, gegen die Flyer- und Angebots-Schwemme des Festivals zu protestieren? Ich will die Unterhaltung mit meinem Musiker nicht unterbrechen und lasse den alternativen Verteiler ziehen. Vielleicht treffe ich ihn ja später noch mal. Lustig finde ich die Sache allemal.

 

Gegen 18 Uhr zieht es mich ins Theater, meine einzige Vorstellung am heutigen Tag. Wieder ist der Schauplatz das kleine Theater des Vieux Balancier, in dem ich Stunden zuvor das Macadam Théâtre angeschaut habe:

 

„La nuit juste avant les forêts“ (Die Nacht kurz vor den Wäldern) von Bernard-Marie Koltès, gespielt von der Compagnie Pourquoi ?, Jouy le Moutier (F).

 

Das Stück, mit dem der auch gerne und häufig in Deutschland gespielte Franzose 1977 seinen großen Durchbruch schaffte. Ein Mann, alleine auf der Straße im Regen, schreit seine Revolte gegen die Gesellschaft aus sich heraus. Gegen die Welt des Bürgertums, die Maschine der Arbeitswelt, gegen eine Welt ohne Mitmenschlichkeit, ohne Menschlichkeit ganz allgemein.

 

Auf die Zärtlichkeit hinter der Brutalität des Textes weist der schöne Einstieg mit schwarz-weißen Filmaufnahmen hin, begleitet von Pianomusik und der zerbrechlichen Stimme des in Frankreich erfolgreichen Chansonniers Raphaël. Der Schatten des jungen Darstellers Arthur Marraud des Grottes fügt sich behutsam in Bild und Musik ein – dann wird die Plane vor der Bühne eingerissen, die harte Realität nimmt ihren Lauf.

 

Ein Barhocker ist die einzige Utensilie, die auf der Bühne steht. Sie reicht aus, die Leere unterstreicht die Leere, in der sich der Protagonist befindet. Das Spiel ergreift mich lange Zeit nur halb. Zu sehr wird mir der Text geschrieen, zu wenige Nuancen gesetzt, die zärtlichen, stillen Momente eines Monologs zu wenig ausgeschöpft, in Wert gesetzt. Störend für mich auch die wiederholte Kommunikation mit dem Publikum. Mir schaut Marraud des Grottes in die Augen, als er im Text zu einer Frau spricht. Angesprochen fühle ich mich dadurch nicht, der Kniff funktioniert nicht.

 

Doch dann kommen die letzten vielleicht zehn, fünfzehn Minuten. Nach einem Black liegt der Protagonist in einer Ecke, erzählt, wie er in der Métro zusammengeschlagen wurde. Es geht auf das Finale zu. Hier: kein direkter Blick ins Publikum. Hier: leises Schluchzen, lautes Schreien, Kontraste, tolles Körperspiel, das ständige Versuchen, Aufzustehen, doch das immer wieder Hinabrutschen in die Miesere, auf den Boden. Verzweifelung im ganzen Körper. Zittern, Ausweglosigkeit. Das Bühnenlicht dämmert aus, Marraud des Grottes Gesicht ist eine Armlänge von meinem entfernt. Blick ins Leere, an meiner Schulter vorbei irgendwo in den Gang hinein. Leer, verzweifelt, hilfesuchend. Zehn ganz große Minuten gehen hier zu Ende.

 

Ich ärgere mich, als das Publikum diesen wunderbaren Augenblick mit sofort einsetzendem Klatschen brutal zerstört.

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